Veröffentlichungen
Verfasser: Prof. Dr. R. Bader / Bettina Schäfer
Thema: Lernfelder gestalten
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Lernfelder gestalten

Vom komplexen Handlungsfeld zur didaktisch strukturierten Lernsituation

Im Mai 1996 verabschiedete die Kultusministerkonferenz die "Handreichungen für die Erarbeiten von Rahmenlehrplänen für den berufsbezogenen Unterricht in der Berufsschule...". Im Verständnis der KMK-Konzeption werden Lernfelder als didaktisch reflektierte Handlungsfelder Gestaltungsgrundlage für Rahmenlehrpläne.

Im vorliegenden Beitrag wird ein Ansatz zur Konkretisierung des reflexiven Zusammenhangs zwischen Handlungsfeldern und Lernfeldern sowie zur Untersetzung der Lernfelder durch Lernsituationen vorgestellt. Er soll als Handreichung dienen bei der praktischen Umsetzung des Lernfeld-Konzepts in der didaktischen und unterrichtsorganisatorischen Planung in Bildungsgangkonferenzen an den Schulen.

 

  1. Leitfragen zur didaktischen Reflexion komplexer Handlungsfelder

 

1.1 Vorgehensweise

Sollen Lernfelder und Lernsituationen Ausgangspunkt für die Gestaltung des Unterrichts in der Berufsschule sein, so müssen verschiedene Analysestufen berücksichtigt werden. Erst eine an didaktischen Grundsätzen orientierte Reflexion ermöglicht es, den Lernfeld-Ansatz als didaktisches Konzept zu begründen.

Zu Beginn stellt sich die Frage nach den zu wählenden Reflexionsstufen. Auf der Grundlage der in den KMK-Handreichungen verwendeten Begriffe und unter Berücksichtigung von Erfahrungen aus der Lehrplanarbeit werden hier in einem pragmatischen Ansatz drei Stufen gewählt: Handlungsfelder, Lernfelder und Lernsituationen. Der Übergang von einer Stufe zur nächsten (z. B. vom Handlungsfeld zum Lernfeld) stellt den zu berücksichtigenden Reflexionsvorgang dar. Die verschiedenen Betrachtungsrichtungen ergeben sich aus unterschiedlichen Fragestellungen, die sich aus den beschriebenen Anforderungen an Lernfelder und Lernsituationen unmittelbar entwickeln lassen (vgl. Abb.1).

 

 

Im folgenden werden Leitfragen vorgestellt, die ein systematisches Erschließen bildungsrelevanter Lernfelder und Lernsituationen aus komplexen Handlungsfeldern erleichtern sollen. Diese Fragen werden in einem ebenfalls pragmatischen Suchprozess entwickelt. Als theoretische Grundlage dienen vor allem

 

1.2 Leitfragen

In welcher Weise können Handlungsfelder erschlossen werden?

Handlungsfelder verknüpfen berufliche, gesellschaftliche und individuelle Problemstellungen miteinander. Hinweise auf berufliche Problemstellungen enthalten die Berufsbilder. Weiterhin geben Ausbildungsordnungen und die konkrete Ausbildungsrealität in den Betrieben Anhaltspunkte für berufliche Handlungsfelder. Gesellschaftliche Problemstellungen ergeben sich für die Jugendlichen bzw. jungen Erwachsenen durch das Leben in bzw. die Auseinandersetzung mit sozialen Gruppen, wie z. B. Vereinen, Gewerkschaften, Parteien u. s. w. Individuelle Problemstellungen schließlich betreffen den privaten Bereich in der Familie und im Freundeskreis. Werden durch die getrennte Betrachtung Schwerpunkte sowohl für den berufsbezogenen als auch für den berufsübergreifenden Bereich deutlich, so soll in Lernfeldern im Sinne einer fächerintegrierenden Lernorganisation die Mehrdimensionalität von Handlungsfeldern berücksichtigt werden.

 

In welcher Weise können Handlungsfelder in didaktisch begründete Lernfelder transformiert werden?

Handlungsfelder mit komplexen beruflichen sowie lebens- und gesellschaftsrelevanten Problemstellungen sind in großer Zahl zu finden. Erst eine didaktische Analyse sowohl der Gegenwarts-, Zukunfts- und exemplarischen Bedeutung als auch der thematischen Struktur der Handlungsfelder (in Anlehnung an Kriterien Klafkis vgl. 1975, 1996) führt zu didaktisch begründeten Lernfeldern (vgl. Abb. 2).

 

 

 

Gegenwartsbedeutung

  1. Spiegeln die Lernfelder die Ausbildungssituation der Lernenden wider?
  2. Wird das Spezifische des zu erlernenden Berufs durch die Auswahl der Lernfelder deutlich?
  3. Können Alltagserfahrungen und Interessengebiete der Lernenden in die Lernfelder integriert werden?
  4. Stellen die Lernfelder für die Lernenden relevante (berufliche) Bezüge her?
  5. Bilden die Lernfelder in ihrer Gesamtheit den zu erlernenden Beruf ab?
  6. Entspricht die Zuordnung der Lernfelder zu einzelnen Ausbildungs-/Schuljahren dem Ausbildungsstand der Lernenden?

 

 

Zukunftsbedeutung

  1. Werden durch die Lernfelder erkennbare Innovationen berücksichtigt?
  2. Welche Bedeutung werden die Lernfelder in Zukunft für den entsprechenden Beruf haben?
  3. Welche Aspekte (dienstleistungsbezogen, fertigungstechnisch, wartungstechnisch) werden in der Berufstätigkeit des entsprechenden Ausbildungsberufs in Zukunft im Vordergrund stehen?

Exemplarische Bedeutung

Lässt sich in der Bearbeitung der Lernfelder Transferfähigkeit für weitere Lernfelder entwickeln?

 

Thematische Struktur

  1. Unter welchen Aspekten/Ansätzen beruflichen Handelns (arbeitsteilig-prozessbezogen, produktbezogen) werden die Lernfelder formuliert?
  2. Sind die Lernfelder aufeinander abgestimmt, d. h. in einer sinnvollen Reihenfolge zueinander angeordnet?

 

In welcher Weise befähigen Lernfelder zur Bewältigung komplexer Problemstellungen?

In welcher Weise lassen sich die Zielformulierungen konkretisieren?

Sind Handlungsfelder in der beschriebenen Weise analysiert und als relevant für die Ausgestaltung von Lernfeldern identifiziert, so wird im Rückschluss überprüft, in welcher Weise die Lernfelder dazu beitragen, Handlungskompetenz zu entwickeln und zu fördern. An dieser Stelle erfolgt die Entscheidung über die Bildungsrelevanz eines jeden Lernfeldes. Dabei geht es in erster Linie um die Reflexion auf curricularer Ebene (vgl. Abb. 3)

 

 

  1. Leisten die Lernfelder einen Beitrag zur Bewältigung gegenwärtiger Lebenssituationen der Lernenden?
  2. Bilden die Lernfelder eine vollständige in sich geschlossene (berufliche) Handlung ab?
  3. Werden in den Lernfeldern neben fachlichen Zusammenhängen auch gesellschaftliche und individuelle Aspekte angesprochen?
  4. Können die verschiedenen Dimensionen von Handlungskompetenz für das jeweilige Lernfeld spezifisch formuliert werden?

In welcher Weise können Lernfelder (im Sinne von Handlungsorientierung) durch Lernsituationen konkretisiert werden?

Lernsituationen sollen exemplarisch die Lernfelder repräsentieren. Da auf dieser Ebene konkrete Unterrichtseinheiten geplant werden, müssen unterrichtsorganisatorische Bedingungen analysiert werden. Die Zugänglichkeit und Darstellbarkeit der Thematik unter Einbeziehung der schulischen Rahmenbedingungen (vorhandener Fachräume, einsetzbarer Medien u.s.w.) spielen eine entscheidende Rolle bei der Ausgestaltung der Lernsituationen. Die Lehr-Lern-Arrangements im Sinne einer vollständigen Handlung zu konkretisieren sein. Neben diesen unterrichtsorganisatorischen Einflussgrößen ergeben sich aufgrund der anthropologisch-psychologischen Voraussetzungen der Lernenden und des sozial-kulturellen Umfeldes weitere Bedingungsfelder des Unterrichts (vgl. Heimann; Otto; Schulz 1975; vgl. Abb. 4).

 

Zugänglichkeit bzw. Darstellbarkeit

  1. Welche technik- oder berufsspezifischen Methoden kommen in den gewählten Lernfeldern und Lernsituationen zum Tragen?
  2. Sind Fachräume vorhanden, die in den Lernsituationen zur anschaulichen Vermittlung genutzt werden können?
  3. Welche Medien und Unterrichtshilfsmittel stehen bei einzelnen Lernsituationen zur Verfügung?

 

 

Lehr-Lern-Prozessstruktur, Interaktionsstruktur, Medium sozialer Lernprozesse

  1. In welcher Weise sind die Lernsituationen innerhalb eines Lernfeldes aufeinander bezogen?
  2. Stellen die einzelnen Lernsituationen vollständige Handlungen dar (Planen, Durchführen, Kontrollieren)?
  3. Welchen Einfluss hat die Unterrichtsorganisation (Block- oder Teilzeitunterricht) auf die Zuordnung der Lernsituationen zueinander und deren zeitliche Abfolge?
  4. In welcher Weise können soziale Lernprozesse in den Lernsituationen gefördert werden?

Anthropologische-psychologische Voraussetzungen

  1. Besteht innerhalb der Lernsituationen die Möglichkeit, auf die individuellen Lernvoraussetzungen der Lernenden einzugehen?
  2. Können Interessen der Lernenden in die Lernsituationen integriert werden?
  3. Sind unterschiedliche Zugangs- und Darstellungsformen zur Differenzierung innerhalb der Lernsituationen möglich?
  4. Welche Voraussetzungen (fachlich, lernpsychologisch) müssen gegeben sein, um die jeweilige Problemstellung bewältigen zu können?
  5. Sind diese Voraussetzungen durch die schon bearbeiteten Lernsituationen geschaffen worden?

Sozial-kulturelle Voraussetzungen

  1. In welcher Weise können regionalspezifische Besonderheiten berücksichtigt werden?
  2. Sind die Lernsituationen offen für Veränderungen und Ergänzungen formuliert?
  3. Welchen Einfluss hat die materielle Ausstattung der Schule auf die Gestaltung des Unterrichts in den Lernsituationen?

 

In welcher Weise tragen die Lernsituationen dazu bei, berufliche sowie Lebens- und gesellschaftsbedeutsame Problemstellungen zu bewältigen?

Der Schwerpunkt der Reflexion zur möglichen Kompetenzentwicklung vom Lernfeld zum Handlungsfeld liegt auf curricularer Ebene.

Auf der Ebene konkreter Lernsituationen muss nun analysiert werden, in welcher Weise und unter welchen Akzenten berufliche Handlungskompetenz durch die Unterrichtseinheit entwickelt werden kann.

Fragen der methodischen Gestaltung und Überprüfbarkeit von Lernprozessen stehen somit im Vordergrund (vgl. Abb. 5)

 

 

 

Methodische Gestaltung und Überprüfbarkeit

  1. Welche Schwerpunkte der Kompetenzförderung können in den einzelnen Lernsituationen gesetzt werden?
  2. Durch welche Unterrichtsmethoden können die verschiedenen Kompetenzdimensionen in den Lernsituationen gefördert werden?
  3. In welcher Weise kann der Erfolg der Lernprozesse überprüft werden?
  4. In welcher Weise können die Lernenden sich selbst überprüfen?

 

In welcher Weise können in Lernsituationen Handlungsstrukturen aufgebaut werden?

Hier nun schließt sich der Kreis: Werden Lernsituationen didaktisch konkretisiert, indem sie an beruflichen Problemstellungen orientiert sind und vollständige reflexive Handlungen (Informieren, Planen, Entscheiden, Durchführen, Kontrollieren, Bewerten) darstellen, so kann das Lernfeld-Konzept dazu beitragen, Jugendliche zu befähigen, berufliche sowie lebens- und gesellschaftsbedeutsame Handlungssituationen zu gestalten.

 

 

  1. Chancen und Grenzen des Lernfeld-Konzepts

Würde das Lernfeld-Konzept als fächerübergreifendes Prinzip durchgängig in der Berufsschule umgesetzt, so hätte das weitreichende Konsequenzen auf verschiedenen Ebenen. Im Einzelnen könnte es u. a. bedeuten:

  1. Stundenpläne werden nach Lernfeldern und nicht nach Unterrichtsfächern organisiert.
  2. Klassenarbeiten werden nicht in einem Unterrichtsfach geschrieben, sondern beziehen sich auf einzelne Lernfelder.
  3. Zeugnisse weisen keine Unterrichtsfächer, sondern Lernfelder aus.
  4. Lehrinhalte werden nicht mehr nach Strukturen vermittelt, die aus wissenschaftlichen Zusammenhängen abgeleitet werden; vielmehr müssen handlungssystematische Zusammenhänge geschaffen werden.
  5. Lehrende müssen sich in den verschiedenen Lernfeldern und Lernsituationen untereinander abstimmen.
  6. Sollen betriebsspezifische Erfahrungen in den Lernprozess integriert werden, so muss die Lernortkooperation verstärkt werden.
  7. Der Bezug zur betrieblichen Praxis muss in jeder Lernsituation vermittelbar sein.
  8. Durch das Lernfeld-Konzept verschiebt sich das Fachlehrerprinzip; der einzelne Lehrer ist nicht mehr Experte für ein bestimmtes Fach, sondern deckt bestimmte Lernfelder in Kooperation mit anderen Lehrern ab.
  9. Die berufsübergreifenden Fächer erhalten durch ihre Einbindung in das Lernfeld-Konzept stärkeren Berufsbezug, sind damit aber auch an die berufsbezogenen Lernfelder gebunden.
  10. Fachliche Grundlagen und Phasen der Systematisierung des Wissens, die zuvor fachbezogen erfolgten, werden in Lernfelder integriert.

Der aufgeführte Anforderungskatalog zeigt, dass das Lernfeld-Konzept im Sinne ganzheitlicher Schul- und Lernorganisation gestaltet werden müsste. Die Grenzen der "Machbarkeit" liegen dort, wo rechtliche Voraussetzungen nicht geschaffen werden oder auch schulische Rahmenbedingungen eine konsequente Umsetzung verhindern. Bisherige Erfahrungen mit dem Lernfeld-Konzept in der schulischen Praxis deuten außerdem an, dass Probleme in der konkreten Umsetzung schon dort beginnen, wo Lehrpläne, die noch herkömmlich nach Fächern oder fachsystematisch strukturierten Lerngebieten aufgebaut sind, nach Lernfeldern umstrukturiert werden sollen. Eine didaktische Reflexion, für die mit den oben entwickelten Leitfragen eine Handreichung angeboten wird, muss dann die Transformation solcher Lehrpläne absichern.

Das Lernfeld-Konzept wird mittlerweile mit wachsendem Interesse auch hinsichtlich seiner praktischen Umsetzbarkeit diskutiert (vgl. u. a. Bader 1998, Bader; Schäfer 1997, Middendorf 1997, Twardy; Buschfeld 1997). Den Unterricht in Lernfeldern und Lernsituationen zu gestalten ist ein sinnvoller Ansatz, um erfahrungsbezogenen und schüleraktivierenden Unterricht zu fördern. Unter welchen Bedingungen und in welchen Ausprägungen dies in der Praxis gelingen kann, dies wird sich erst aus Erfahrungen erweisen.

 

 

Literatur:

Bader, Reinhard: Entwicklung beruflicher Handlungskompetenz in der Berufsschule. Soest: Landesinstitut für Schule und Weiterbildung 1990.

Bader, Reinhard; Schäfer, Bettina: Lernfelder für integrierte Lerngruppen. Probleme und Lösungsansätze bei der Fachklassenbildung für Berufe mit einer geringen Anzahl Auszubildender. In: Der berufliche Bildungsweg (1997) 5, S. 10 - 13.

Bader, Reinhard: Lernfelder. Erweiterter Handlungsraum für die didaktische Kompetenz der Lehrenden. In: die berufsbildende Schule 50 (1998) 3, S. 73-74.

Heimann, Paul; Otto, Gunter; Schule, Wolfgang: Unterricht – Analyse und Planung. Hannover: 7.A.,1975.

Klafki, Wolfgang: Neue Studien zur Bildungstheorie und Didaktik. Weinheim; Basel:5., unveränd. A., 1996.

KMK (Sekretariat der Ständigen Konferenz der Länder in der Bundesrepublik Deutschland): Handreichung für die Erarbeitung von Rahmenlehrplänen der Kultusministerkonferenz für den berufsbezogenen Unterricht in der Berufsschule und ihre Abstimmung mit Ausbildungsordnungen des Bundes für anerkannte Ausbildungsberufe. Bonn: 1996.

Middendorf, William: Erste Beachtung zur Umsetzung der Lernfeldorientierung in den Lehrplänen der Berufsschule am Beispiel Nordrhein-Westfalen. In: Zeitschrift für Berufs- und Wirtschaftspädagogik 93 (1997)5, S.521-531.

Twardy, Martin; Buschfeld, Detlef: Fächerübergreifender Unterricht in Lernfeldern – neue Rahmenbedingungen für didaktische Innovationen? In: Euler, Dieter; Sloane, Peter F. E. (Hrsg.): Duales System im Umbruch. Pfaffenweiler: 1997,S. 143-159.

 

Quelle: Die berufsbildende Schule (BbSch) 50 (1998) 7-8