Berufsbezug oder umfassende Handlungskompetenz?
Dietrich Horstmann – aus dem Werkheft Berufsbezug (1. Auflage 1999 vergriffen ) 2. Auflage 2003 online hier
Ev. Kirche im Rheinland, Abt. Erziehung und Bildung,Düsseldorf 1999
auch veröffentlicht in BRUHeft 30 , S. 39ff
Berufsbezug oder umfassende Handlungskompetenz?
Der Beitrag des Religionsunterrichtes in den Bildungsgängen der Teilzeitberufsschule des Berufskollegs
Diskussionsbeitrag von Dietrich Horstmann
In der Berufsbildungsdiskussion der letzten Jahre ist der „Berufsbezug“ neben „Handlungsorientierung“ zu einem der zentralen Begriffe geworden. Der folgende Beitrag kann keine umfassende Analyse bieten. Er reflektiert auf der Basis der eigenen Realitätswahrnehmung als Berufsschulpfarrer in Duisburg die Situation. Dabei geht es zunächst um die Interessen, die dabei im Spiel sind. Sodann versuche ich im zweiten Teil definitorische Abgrenzungen zum Begriff „Berufsbezug“. Daran anschließend wird begründet, warum „umfassende Handlungskompetenz“ geeigneter scheint, die Didaktik des Berufskollegs zu begründen. Dann wird versucht, theologische Begründungszusammenhänge für einen handlungsorientierten Religionsunterricht (RU) anzudeuten. Aus den Richtlinien NRW wird deren Handlungsbegriff vorgestellt. Dies mündet in Konsequenzen für den RU am Berufskolleg.
1. Die Interessenlagen
Die Auszubildenden
Erwerbstätigkeit ist für die Lebensplanung der meisten Jugendlichen von zentraler Bedeutung. Aber ein lebenslang ausgeübter Beruf gehört angesichts der ökonomischen Veränderungen immer weniger zum Kern ihrer Identität. Überhaupt Arbeit zu haben, hat Vorrang vor einem „Beruf“. Schon diese Relativierung des Berufes verbietet eine didaktische Einengung des RU auf den Beruf. Das Leben der Auszubildenden umfasst nicht nur den Beruf. Selbstkompetenz, Perspektivengewinnung, Partnerschaft und Freizeit sind ihnen ebenso wichtig. Auszubildende würden deshalb „Berufsbezug“ im engeren Sinne als primäre didaktische Leitlinie für den RU ablehnen. Sie schätzen den Freiraum selbstbestimmten Lernens im RU im Kontrast zum verzweckten Lernen. Vor allem aber müssen sie sich ihre gesamte Lebenswelt angesichts der Vielfalt der Wahlmöglichkeiten selbst zusammenfügen; denn fest gefügte Muster gibt es immer weniger.
Die Schule
Die interessenpolitisch gesehen starke Stellung der Wirtschaft drängt die Bildungsaufgabe des Berufskollegs immer mehr an den Rand. Ein möglichst enger „Berufsbezug“ der Bildungsangebote scheint für die Schule ein Mittel zur Legitimation des Berufskollegs gegenüber dem dualen Partner zu sein. Andererseits wissen Schulleitungen und Lehrkräfte, dass sie den Interessen der Betriebe nicht zu sehr entgegenkommen dürfen. Durch zu einseitigen Berufsbezug würde der Lernort Schule überflüssig. Dennoch wächst die Bereitschaft, den umfassenderen Bildungsauftrag zurückzustellen bei Schulleitungen und -ministerien. Bei Lehrern ist dagegen ein Festhalten an der wissenschaftlich fundierten Fachlichkeit festzustellen: Dies richtet sich gegen einen zu engen Berufsbezug, aber vor allem gegen eine puristische Handlungsorientierung im Sinne von Produktorientierung.
Die Ausbildungsbetriebe
Unter Rationalisierungs- und Kostendruck verbunden mit kurzfristigem Gewinnstreben ist für viele – aber nicht für alle – Betriebe die Reduzierung der Schulzeiten wichtig. Obwohl alle seriösen Kostenrechnungen – auch aus der Wirtschaft – belegen, dass Ausbildung sich langfristig rechnet, schlägt das Streben nach sofort zu realisierenden Erträgen immer mehr durch. Mit dem Argument „Berufsbezug“ im Sinne von sofort verwertbarer Arbeitsleistung wird eine Reduzierung und Verdichtung von Unterricht vor allem im berufsübergreifenden Bereich gefordert. Hier ist auch häufig vom „Praxisbezug“ die Rede, so als ob Praxis ohne Reflexion als solche eine bildende Funktion habe. Berufsbezug ist in diesem Kontext ein Kampfbegriff zur Sicherung ökonomischer Interessen vor allem beim traditionellen Handwerk und im Einzelhandel, die unter hartem Wettbewerbsdruck stehen und deshalb jede Arbeitsstunde der Auszubildenden zu benötigen meinen. In der Tendenz ist es also das Interesse, die Arbeit zu entberuflichen und auf Jobs zu reduzieren.
Die berufliche Bildung/ Berufspädagogik
Von Seiten der Wissenschaft im Berufsbildungsbereich, von den Spitzenorganisationen der Wirtschaftsverbänden und den Gewerkschaften wird mit dem Konzept der Handlungsorientierung eine Verknüpfung von beruflichen Handlungssituationen und schulischen Lernsituationen zum Erwerb von humanen, sozialen, fachlichen und methodischen Kompetenzen mit dem Ziel einer umfassenden Handlungskompetenz verfolgt. Dabei ist offen, an welchen Lernorten oder mit welchen Fächern diese Kompetenzen erworben werden.
Ob das Berufskolleg dafür langfristig notwendig ist, ist umstritten, ebenso, ob es weiterhin Fächer geben soll. Vor allem der inhaltliche Beitrag von Deutsch, Politik, Religion und Sport steht immer wieder zur Debatte. Die Eingriffe der Wirtschaft in die Inhalte dieser Fächer mit dem Hinweis auf angeblich fehlenden Berufsbezug nehmen zu.
Die Politik
Die Debatte um den Berufsbezug in der Politik ist von der neoliberalen Globalisierungsdrohung einerseits und den steigenden Zahlen von Jugendlichen ohne Ausbildungsplatz bestimmt. Angesichts dieses Druckes geben die Parteien – in unterschiedlichem Ausmaß – immer mehr den Forderungen der Wirtschaft nach und kürzen den berufsübergreifenden Bereich zugunsten der berufsbezogenen Fächer. Die Organisation des Unterrichts wird „berufsbezogen“ vorgenommen. Eine Sonderstellung nehmen die Grünen ein. Sie fordern eine fundierte Obligatorik im Berufskolleg in Abgrenzung von reinen Wirtschaftsinteressen, wollen aber den konfessionellen RU durch das Fach „Lebensgestaltung “ Ethik “ Religionen“ (LER) ersetzen. Die Vollzeit-Ausbildungs-Programme, die den Jugendlichen Angebote zur Ausbildung und zum beruflichen Einstieg machen, sind weitgehend vom Erwerbssystem losgelöst. Sie zeigen die Dilemmata der Politik angesichts der Wandlungen im Beschäftigungssystem.
Die Evangelische Kirche und die Religionspädagogik
Die Evangelische Kirche bietet ein uneinheitliches Bild, weil sie weder bildungspolitisch noch didaktisch abgestimmte und einheitliche Konzepte hat. Der „Orientierungsrahmen“ ist eine nicht verbindliche Arbeit der Religionspädagogischen Institute und der AEED und wirkt „überholt!“ (1991). Auf der Basis der Denkschriften, vor allem des Sozialwortes der Kirchen, müsste dringend ein Konsens gefunden werden, um den Stellenwert von Arbeit und Beruf und den der Religion am Berufskolleg zu begründen. Dabei ist erstaunlich, dass die jüngste Denkschrift „Handwerk als Chance“ (1997) den Berufsschulreligionsunterricht überhaupt nicht erwähnt und weithin unkritisch konservative wirtschafts- und gesellschaftspolitische Vorstellungen der Handwerksverbände übernimmt.
Eine fundierte religionspädagogische Position muss den Beitrag des Religionsunterrichtes zum Lebensraum „Beruf“ ebenso wie zu allen anderen Lebensräumen der Auszubildenden deutlich machen. Der Grundkonsens mit der Berufspädagogik und den Vereinbarungen der Kultusministerkonferenz (KMK) scheint insgesamt vorhanden: „Umfassende Handlungskompetenz“ entspricht auch dem Anliegen der Religionspädagogik. Diesen Anspruch aber wird die Religionspädagogik nur im Verbund mit den anderen Fächern des berufsübergreifenden Bereichs leisten können.
2. Definitorische Abgrenzungen
Der Begriff „Berufsbezug“ ist nicht nur interessenpolitisch vielschichtig. Auch sachlogisch sind Abgrenzungen notwendig.
Ich unterscheide einen weiteren von einem engeren Berufsbezug: einerseits also Bezüge zum Beruf an sich und andererseits Bezüge zum konkreten Ausbildungsberuf. Es ergeben sich dabei Überschneidungen, z.B. bei den biografischen und den individuellen Bezügen.
Die jeweils angeschlossenen Problemfragen versuchen in erster Linie mögliche Fragerichtungen der Auszubildenden oder Fragen, die ihre Interessen im Blick haben, aufzunehmen. Sie machen deutlich, dass der RU von den Subjekten her denkt und damit die persönliche und soziale Handlungskompetenz im Kontext des Berufes im Blick hat und sich nicht primär an Prinzipien oder Bildungsgehalten, an beruflichen Handlungsfeldern oder an durch Ausbildungsordnungen festgelegten schulischen Bildungsgängen orientiert.
2.1 Bezüge zum Beruf an sich
Bei diesem weiteren Berufsbezug wird die Bedeutung des Berufs in einem größeren Kontext gesehen: Biografie, Gesellschaft, Wirtschaft und globale Situation.
Bezug zum Leben des Einzelnen (biographischer Bezug)
Hier geht es darum, welchen Stellenwert „Beruf“ überhaupt für die Lebensplanung haben kann. Inwieweit soll ich überhaupt einen Beruf lernen, wenn ich in meinen gewünschten Beruf sowieso keinen Ausbildungsplatz erhalte? Wozu muss ich überhaupt arbeiten? Es gibt angesichts der Knappheit von Erwerbsarbeit eine Fülle von Alternativen zum Beruf: Aussteigen ? kriminell werden ? Jobben ? Lottogewinn ? Versorgung durch die Sippe ? Schwarzarbeit ? Ehrenamt.
*“ Warum soll ich mich für eine ohnehin ungewisse Zukunft quälen? ?Spaß haben ist angesagt“.
* Brauche ich für die Lebensplanung, etwa zur Familiengründung, einen Beruf? ?Jobben reicht?.
* Was leistet der Beruf für das persönliche Wachstum? Welchen persönlichen Sinn bietet er?
* Wie kann ich einen Beruf und meine Grundüberzeugungen, Glaube und eigene Ideale miteinander vereinbaren?
* Was bedeutet es für meine Lebensplanung, wenn Phasen beruflicher Tätigkeit und Phasen von Arbeitslosigkeit oder unbezahlter Familienarbeit einander ablösen?
Bezug der Gesellschaft zum Beruf (sozialer Bezug)
Hier geht es darum, welchen Stellenwert „Beruf“ für den Staat und die Gesellschaft hat und umgekehrt, wie gesellschaftliche Veränderungen auf den Beruf zurückwirken.
* Wie wird angesichts des „Endes der Erwerbarbeitsgesellschaft“ die Zukunft aussehen?
* Inwieweit ist die Verteilung von Reichtum noch an Arbeit und Leistung im Beruf gebunden?
* Wie sieht eine gesellschaftsverträgliche Verteilung von Arbeit, Arbeitszeit und Freizeit aus?
* Wie ist der Zugang zum Beruf für Männer und Frauen?
* Wie wird mit Arbeitslosen umgegangen?
* Inwieweit soll es eine für alle geltende arbeitsfreie Zeit geben (Feiertag, Sonntag)?
* Wie werden unterschiedliche Interessen zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern verhandelt?
* Inwieweit ist berufliche Bildung staatliche Aufgabe?
* Wie soll die Altersversorgung geregelt werden? Soll sie weiterhin überwiegend aus Erwerbsarbeit erwirtschaftet werden?
Bezug der Wirtschaft zum Beruf (ökonomischer Bezug)
Hier geht es um volkswirtschaftliche und betriebswirtschaftliche Bezüge des Berufs.Welchen ökonomischen Nutzen hat – geregelte – Berufstätigkeit für die Gesellschaft?
* Inwieweit ist berufliche Bildung Aufgabe der Wirtschaft?
* Welche Rahmenbedingungen für den Beruf sind für den wirtschaftlichen Erfolg notwendig?
* Welches Entlohnungssystem ist ökonomisch und gesellschaftlich sinnvoll?
* Wie viel Steuern sollen von wem für die Berufsausbildung aufgebracht werden?
* Darf alles produziert werden, was möglich ist (Produktethik)?
Weltweite Bedeutung von Beruf (globaler Bezug)
Hier geht es um die aus der globalen Situation sich ergebenden Bezüge des Berufs. Welche Bedeutung haben Berufe und deren Leistungen angesichts der „Globalisierung“?
* Wie sind die Probleme: Arbeitslosigkeit, Ausbeutung, Kinderarbeit, Benachteiligung der Frauen und die aus ihr folgenden weltweiten Probleme wie z.B. Migration zu lösen?
* Welche religiösen und kulturellen Traditionen wirken auf den Beruf und das Berufssystem ein?
* Welchen Beitrag leisten die Berufe zu Frieden, Gerechtigkeit, Schöpfung und Partizipation?
2.2 Bezug zum konkreten Ausbildungsberuf
Hier geht es also um den jeweiligen Ausbildungsberuf des Auszubildenden und die betriebliche Realität. In diesem Sinne wird ?Berufsbezug? zumeist gebraucht. Es handelt sich dabei um eine Engführung.
Bezug der Auszubildenden zum konkreten Beruf
Hier geht es um den Berufsbezug der Auszubildenden im engeren Sinne in seiner Ausbildungssituation also die ?Innenseite? des Erlebens im Beruf .
* Welchen Bezug zu meinem konkreten Ausbildungsberuf habe ich? Ist es ein Wunschberuf oder ein Notberuf?
* Welche persönliche Erfahrungen mache ich in meinem Ausbildungsberuf?
* Was trägt meine Ausbildung zu meinem Selbstwertgefühl z.B. durch das verdiente Geld, zur Bewährung meiner Fähigkeiten bei?
* Wie gehe ich mit Versagen um?
* Wie wehre ich mich gegen Mobbing?
* Wie kann ich durch meinen Beruf meine Fachkompetenz und meine soziale Kompetenz erweitern?
* Wie kann ich in meinem Ausbildungsverhältnis „Chef / Chefin“ meines Lebens bleiben oder werden?
Bezug zu den konkreten Berufsanforderungen (funktionaler Bezug)
Hier geht es um den Bezug zum konkreten Arbeitsplatz und seinen Anforderungen in der Ausbildung
* Inwieweit trägt meine Arbeit zur Verbesserung des Betriebsergebnisses bei? Wem nutze ich?
* Erhalte ich dafür angemessene Vergütung?
* Ist mein Arbeitsplatz nur rein funktional oder nimmt er auf menschliche Bedürfnisse Rücksicht? Wieweit muss ich meine Persönlichkeit aufgeben?
* Sind die Arbeitsbedingungen sozial?
* Welche Konflikte erlebe ich am Arbeitsplatz?
* Wie sind die Beziehungen am Arbeitsplatz? Habe ich Mitbestimmungsmöglichkeiten?
* Welchen Platz in der Hierarchie des Betriebes nehme ich ein?
* In welche moralischen Dilemmata führt mich die Ausbildung?
* Kann ich etwas von meinen Idealen verwirklichen?
* Was kann ich alleine oder mit anderen zusammen tun, um meine Situation zu gestalten?
3. Umfassende Handlungskompetenz in beruflichen und außerberuflichen Situationen als Schlüssel für die berufliche Bildung und für den Religionsunterricht
Zumeist wird Berufsbezug im engeren Sinne als rein funktionaler Bezug zu einen Arbeitsplatz / Ausbildungsplatz definiert. Zusammen mit dem Begriff im weiteren Sinne könnte ?Berufsbezug? durchaus als ein Schlüssel der Berufspädagogik dienen.
Der so umrissene Berufsbezug im umfassenden Sinne blendet aber die anderen Lebenswelten der Auszubildenden aus: Selbstfindung, Partnerschaft, Familie, Wohnen, Freizeit, Konsum, …
Diese weiteren Lebenswelten sind aber aus der Sicht der Auszubildenden, einer ganzheitlichen theologischen Anthropologie sowie der modernen Berufsbildung mindestens ebenso wichtig. Deshalb scheint es angebrachter zu sein, als Generalschlüssel für die Berufliche Bildung den Begriff der „umfassenden Handlungskompetenz in beruflichen und außerberuflichen Situationen“ zu benutzen. Dabei ist mit „Situation“ nicht nur das singuläre Erleben gemeint, sondern die jeweilige Lebenswelt und die Erfahrungen, die dort gemacht werden.
4. Theologische Begründungen für die „umfassende Handlungskompetenz“
Mit Blick auf den „Berufsbezug“ scheinen mir theologisch folgende Begründungszusammenhänge wichtig:
Unter der eschatologischen Perspektive der Verheißung sind Lebenssituationen immer schon bestimmt von Gott, der in Lebenssituationen auf uns zukommt. Deshalb sind sie als solche Gegenstand des Religionsunterrichtes. Es gibt keine Lebensbereiche, die auszunehmen wären oder sich als besonders geeignet für den RU erweisen.
In der unbedingten Annahme des Menschen durch Gott wurzeln Befreiung, Glück und Sinn des Lebens für sich und andere in Beruf und anderen Lebenswelten.
Der Wert und die Würde eines Menschen hängen nicht an dem Maß seiner beruflichen Leistungsfähigkeit. Beruf und Arbeit können also nicht alleine bestimmend sein.
Zur Handlungskompetenz aus christlicher Perspektive im Beruflichen gehören deshalb bewertende Handlungen (Diskurse), wie z.B. Inwieweit entspricht mein Beruf der Verantwortung für die Befreiung des Menschen, seiner Würde und seinem persönlichen Wachsen?
Oder z.B. im globalen Kontext: Wo fördert und wo hindert der Beruf den Einzelnen und das Berufssystem die Gesellschaft, zusammen mit anderen in Frieden, Gerechtigkeit und Schöpfungsgemäßheit zu leben? Wie kann umfassende Teilhabe aller ermöglicht und erweitert werden? Aus theologischer Sicht kann also der Religionsunterricht nicht affirmativ berufliche Praxis sanktionieren.
Im Interesse einer authentischen, angemessenen, kritischen, sozialen und zukunftsoffenen Kompetenz wird er auch Gegenwelten und Alternativen aufzeigen müssen: Er ist eben in allen Lebenssituationen letztlich auf sie Transzendierendes, das christlich gesprochen in dem Begriff Gott zusammengefasst wird, bezogen und nicht auf den Beruf allein. Dieser Bezug auf Gott aber ist kein Bezug zu fertigen Antworten oder Wahrheits- oder Wertsystemen, sondern ein Angebot, sich im Kontext der vielfältigen Traditionen selbst eine Lebenswelt zu schaffen, die Zukunft eröffnet.
5. Richtlinien Evangelische Religionslehre für das Berufskolleg
Als ein ausgeführtes Beispiel für umfassende Handlungskompetenz stehen die Richtlinien NRW 1995. 1998 wurden sie zur Erprobung freigegeben unter der Bedingung der Klärung „der Frage, ob der Berufsbezug hinreichend deutlich dargestellt ist“ (So der vorletzte Satz im Runderlass des Ministeriums für Schule und Weiterbildung vom 1998-02-06, I C 6.36-10/2-50/97, der die Richtlinien für drei Jahre in Kraft setzt.)
„Diese Richtlinien nehmen die Überlegungen zur Entwicklung von Handlungskompetenz in der beruflichen Bildung auf. Unter Handlungskompetenz wird die Fähigkeit und Bereitschaft des Menschen verstanden, in beruflichen und außerberuflichen Situationen problemorientiert, sachgerecht und verantwortlich zu handeln. Dies wird in Qualifikationen beschrieben.
Unter Handlungskompetenz wird im Religionsunterricht die Bereitschaft und Fähigkeit verstanden, in (Lebens-)Situationen [also beruflichen und außerberuflichen! D.H.] authentisch, angemessen, kritisch, solidarisch und zukunftsoffen zu handeln.
Handeln ist hier weit gefasst als inneres und äußeres christliches ?Tun?. Dabei wird für den Religionsunterricht zwischen den Handlungsdimensionen Fühlen, Kennen, Urteilen, Mitbestimmen und Hoffen unterschieden.
Lebenssituationen sind im Religionsunterricht unter religiöser Perspektive zu sehen. In diesen Richtlinien wurde dafür die eschatologische Perspektive der Verheißung gewählt. Sie soll die Bestimmtheit des Lebens von Gott, der in Lebenssituationen auf uns zukommt, ausdrücken.“ (Vgl. Kap. 2.1 in: Richtlinien zur Erprobung für die Bildungsgänge der Berufskollegs in NRW: Evangelische Religionslehre, Düsseldorf 1998, S. 15.)
Entgegen dem üblichen Sprachgebrauch werden hier bewusst die sonst rein funktional zu verstehenden „Qualifikationen“ auch für umfassendere persönliche „Kompetenzen“ angewandt. Eine genaue Aufteilung von bloß beruflich verwertbaren Fähigkeiten (Ausbildung) und darüber hinaus reichenden persönlichen und sozialen Befähigungen (Bildung) ist unmöglich. Insofern setzen sie einen umfassenden Begriff von Berufsbezug voraus. Sie gehen aber über diese berufliche Perspektive hinaus, weil die beruflichen Situationen ein zu begrenztes Lernfeld darstellen, um weiter reichende Handlungskompetenz zu erreichen.
Die Richtlinien sind also umfassend auf die gesamte Lebenswirklichkeit bezogen und verbieten eine Engführung auf „Berufsbezug“. Besonders wichtig ist dabei die Mitwirkung der Schüler bei der Konstruktion von Unterrichtsvorhaben: Mit ihnen zusammen sind Situation, Qualifikation und Themen miteinander im Diskurs zu vermitteln; denn sie sollen selbständig ihre Unterrichtsvorhaben aushandeln, weil es darum geht, dass sie sich selbständig in ihren Lebenswelten behaupten und Verantwortung übernehmen.
6. Mögliche thematische Aspekte zum Thema Arbeit und Beruf im RU
Der Religionsunterricht hat schon immer Fragen des Berufes bearbeitet. Dabei hat er folgende thematischen Aspekte aufgenommen:
(vgl. auch. Dietrich Horstmann, Meine Ausbildung und mein Beruf, Kompetenzen erwerben mit lebendigem Lernen (TZI), in: Handbuch Religionsunterricht an berufsbildenden Schulen, Gütersloh 1997, S. 357ff. und die überarbeitete Fassung auf dieser homepage- Ausbildung und Beruf – Elemente)
Meine Berufswünsche in der Kindheit;
Meine Wege zum Ausbildungsberuf;
eigene Motive (Wünsche, Träume, Erwartungen);
Einflüsse von außen (Eltern, Schule,… );
Hindernisse und eigene Schritte zur Ausbildung;
Meine Situation im Beruf als Auszubildender;
Meine Stärken und Schwächen für den Beruf;
Fachliche Qualifizierung – Leistung – Versagen;
Meine Kontakte zu anderen – Kollegialität;
Konflikte mit anderen – Interessenvertretung;
Autorität – Anpassung – Gehorsam – Widerspruch;
Moralische Dilemmata;
Mein Status jetzt und der meines Berufes;
Vergütungen – Geld;
Rahmenbedingungen beruflicher Arbeit: Organisation – Arbeitszeit – Urlaub;
Sinn der Arbeit – für mich, für andere;
Zukunftsperspektiven in und mit dem Beruf als …
persönliche Perspektiven nach der Ausbildung;
Arbeitsmarktperspektiven im erlernten Beruf;
Zukunft der Arbeit und meine Zukunft;
Mein Beruf in der Perspektive meines Lebens.
Im thematisch-problemorientierten Ansatz ist die Aufnahme von Problemen aus der Berufssphäre selbstverständlich. Lebendiges Lernen im Religionsunterricht am Berufskolleg hat aber alle Aspekte des Lebens im Blick und nicht nur den Beruf.
7. Konsequenzen für den Religionsunterricht am Berufskolleg
Es geht also dem RU um umfassende Handlungskompetenz in beruflichen und außerberuflichen Situationen. Dabei ist es durchaus wünschenswert, möglichst viele Kompetenzen an den beruflichen Handlungsfeldern zu orientieren und auf den Beruf bezogene Lernfelder zu finden. Konkrete Arbeits-, Ausbildungs- und Berufssituationen haben also Priorität auch für den RU. Das bedeutet: Das Fach Religion wird sich nicht mehr isoliert legitimieren und durchführen lassen. Es stellt sich noch mehr auf fächerübergreifendes Lernen ein.
Wegen der Spezialisierung der Berufe und ihrer unterschiedlichen Nähe zur gesamten Realität des Lebens werden das Ausmaß und das Gewicht der beruflichen Situationen allerdings sehr unterschiedliche Berücksichtigung finden. Im sozialpädagogischen Bereich werden ganzheitliche Situationen eher anzutreffen sein als in Ausbildungsgängen für die industrielle Produktion. Ein ausschließlicher oder oft krampfhaft gesuchter Berufsbezug verbietet sich also.
Der Religionsunterricht kann sich darin aber nicht erschöpfen. Wie andere Fächer im beruflichen Schulwesen bearbeitet der RU wegen seiner ganzheitlichen Orientierung auch Situationen in anderen Lebenswelten der jungen Generation (z.B. Selbst- und Sinnfindung, Partnerschaft, Freizeit und Konsum, Gesundheit und Klärung religiöser Einstellungen und Haltungen …). Diese haben zwar indirekt auch einen Bezug zum Beruf, weil sie die Stabilität und Leistungsfähigkeit der Person wesentlich mitbestimmen, aber sie gehen darin nicht auf. Deshalb müssen in unterschiedlichem Umfang Lernsituationen hinzugenommen werden, die weder einen weiteren noch einen engeren Berufsbezug haben.
Vor allem aber muss gewahrt bleiben, dass die jungen Erwachsenen einen Lernraum behalten, in dem sie frei über Methoden, Inhalte und Ziele des Unterrichts (mit)entscheiden können. Die Abmeldemöglichkeit schützt diesen Lernraum zur freien Konstruktion von alternativen Möglichkeiten, Probehandeln und Kreativität, offenem Austausch, Aneignung aktuellen Wissens jenseits von Vorgaben, Phantasie für Gegenwelten und selbstgewählten Projekten. Zweckfreies „Transzendieren“ im wörtlichen Sinne ist ein wesentliches Proprium des RU, das junge Erwachsene brauchen und gerne annehmen.
Für die konkrete Arbeit zum Thema Beruf im RU verweise ich auf
l: Dietrich Horstmann: Meine Ausbildung und mein Beruf. Kompetenzen erwerben mit lebendigem Lernen (TZI), in: Handbuch Religionsunterricht an berufsbildenden Schulen, Gütersloh 1997, S. 357ff
Kurzfassung auf dieser homepage
BRU-Magazin Nr. 26 mit dem Titel ?Thema: Arbeit?, erschienen 1997.