aus : MITTEILUNGEN Nr.2/1999 des Verbandes katholischer Religionslehrer in der Erzdiözese Freiburg
Die Lernfeldkonzeption und der Religionsunterricht:
Überlegungen und erste Schritte
Viele Kollegen in der beruflichen Bildung werden in diesem Schuljahr mit der Lernfeldkonzeption (vgl. MITTEILUNGEN 1/99) konfrontiert. Die Reaktionen sind vielfältigst und reichen von Irritation und Hilflosigkeit bis zu hoffnungsvoller Erwartung eines ganz neuen Lehr- und Lernstils.
In einem gemeinsamen Schreiben von IRP und RPI (Religionspädagogisches Institut Karlsruhe, ev.) an die Religionslehrer der Beruflichen Schulen vom 28. Juni 1999 weisen diese auf die Neuordnung hin und bitten, diese Entwicklung nicht nur mit zu beobachten, sondern mitzugestalten. Ein erster Impuls hierzu möchte dieser Artikel sein, ferner werden wir die Lernfeldkonzeption in unserer diesjährigen Hohritt-Tagung (vgl. Tagungsprogramm) genauer in den Blick nehmen.
Die Markierungspunke dieser Konzeption – handlungsorientierter Unterricht, Vermittlung von Schlüsselqualifikationen – sind theoretisch längst abgesteckt. Nun folgt die Umsetzung, je vor Ort muß die abstrakte Bildungs- und Handlungstheorie konkrete Formen annehmen. Wo bleibt hierbei die Allgemeinbildung und mit ihr unser RU?
In diesem Beitrag wird zum einen versucht einige Modelle anzudenken, zum anderen wird von einer ersten Umsetzung berichtet. Der Blick richtet sich jeweils auf den RU.
1. Situationsbeschreibung
Friedrich-Weinbrenner-Gewerbeschule in Freiburg, Abteilung Vermessungstechnik.
Blockunterricht, 2 mal 6 Wochen pro Schuljahr. Die Schüler arbeiten in einem Klassenzimmer, welches einem Großraumbüro gleicht, ausgestattet mit PC-Arbeitsplätzen incl. Internet-Anschluß, Vidiobeamer und Magnettafel statt Kreide und Schwamm. Sie werden in der ersten Blockhälfte mit einer Fallstudie konfrontiert und erhalten hierzu einen konkreten Lernauftrag. Sie haben Gleit- und Kernzeiten, wie man es von der Arbeitswelt her kennt und gestalten ihre Pausen entsprechend ihres Arbeitsrythmus. Sie wählen eine Aufgabe, die sie bearbeiten wollen und bereiten die Inhalte in Absprache mit ihren Teammitgliedern so auf, daß sie ihren Mitschülern verständlich werden. Die Darstellung der Inhalte erfolgt in der zweiten Blockhälfte mit sogenannten „Präsentationen“, zudem erstellen die Schüler abschließend, in Einzel- wie Partner- oder Gruppenarbeit ein sog. „Elektronisches Fachbuch“ zur Vermessungstechnik, auf welches im Internet zugegriffen werden kann („Schule ans Netz“). Bei den Präsentationen sind alle Schüler und alle Lehrer, die im Projekt unterrichten, anwesend. Intergriert sind die berufsbildenden Fächer sowie z.Zt. die Fächer Deutsch und Gemeinschaftskunde aus dem Bereich der Allgemeinbildung, ebenso Religion. Die Lehrer wirken zunächst hauptsächlich beratend („Scaffolding“), haben feste Zeiten der Anwesenheit, organisieren Lernfelder durch Verfassen von Leittexten und Aufgabenstellungen. In der zweiten Blockhälfte geben sie zusammenfassende Überblicke über die verschiedenen Themenfelder,, konzipieren Klassenarbeiten und Trainingsbögen zur Prüfungsvorbereitung. Die Noten setzen sich zusammen aus der Fachnote für die Präsentation, einer Note für die Durchführung der Präsentation, sowie den Ergebnissen von Klassenarbeiten.
2. Modelle für den RU
Nachfolgend einige Modelle, wie sich der Religionsunterricht in dieser verändernden Landschaft der beruflichen Bildung konzeptionell eingliedern könnte. Die Sammlung ist unvollständig und erwartet Ihre Ergänzung!
Modell 1: RU „classic“
Konzept: „Klassischer“ Religionsunterricht, wie bisher
Bezug zum Lernfeld (LF): kein Bezug
Vorteile: klare Zeitstruktur, kein Arbeits- und Zeitmehraufwand, L+S wissen was sie erwartet (mehr oder weniger)
Nachteile: RU wird als abgetrennt erfahren, analog Leben – Glaube (?) Schülerwirklichkeit wird z.T. ausgegrenzt/nicht ernst genommen, organisatorisch schwierig, weil die Schüler zumindest phasenweise nicht nach Stundenplan, sondern prozeßhaft, thematisch arbeiten
Offene Fragen: Kann sich der RU dieses Konzept noch leisten?
Modell 2: RU als „Nach-Denken“
Konzept: (Schwerpunkt-)Themen des Lernfeldes werden religiös/ethisch reflektiert, abgetrennt vom normalen Unterrichtsalltag der Schüler
Bezug zum LF indirekt über die Themen, Lernfeldthemen als Impulsgeber
Vorteile: klare Zeitstruktur, flexible Terminierung innerhalb des Blocks, Inhalte entsprechen der Lebens-/Arbeitswirklichkeit der Schüler
Nachteile/Gefahren: Flexibilität der Terminierung des RU ist durch den Stundenplan des RL oft sehr begrenzt, RU wird zur „Supervision“ (verliert seine Eigentlichkeit), RU quasi als „Geheimforum“ weil u.U. nicht transparent für die Kollegen
Offene Fragen: Wie kommt dieser RU zu seinen Inhalten/Themen, wie kann Transparenz hergestellt werden?
Modell 3: RU als eigenes Lernfeld
Konzept: RU passt sich organisatorisch und methodisch-didaktisch der Lernfeldkonzepzion an, erstellt eigene Leittexte und Aufgabenstellungen, bleibt so als eigenständiges Fach deutlich wahrnehmbar, Themen eigenständig oder angelehnt an das LF
Bezug zum LF RU bleibt eigenständig, nutzt jedoch das „know-how“ der berufsspezifischen Fächer, wo die Schüler mit dieser Art zu arbeiten konfrontiert sind
Vorteile: Ausnutzung des Schülerpotentials zum eigenständigen Arbeiten, Anstoß von religiösen Lernprozessen in der Eigenverantwortlichkeit der Schüler
Nachteile: RU reduziert sich zum Teil auf reproduzierbare Inhalte, erfahrungsbezogenes Lernen (z.B. Stilleübungen) bleibt womöglich auf der Strecke, unklare Zeitstruktur und -organisation, Flexibilität der Terminierung des RU ist durch den Stundenplan des RL oft sehr begrenzt
Offene Fragen: Gradwanderung zwischen Eigenständigkeit und Integration, wie verbindlich ist die Bearbeitung der religiösen Aufgabenstellungen?
Modell 4: RU als Bestandteil des Lernfeldes (integrierter RU)
Konzept: Religiös/ethische (?) Fragestellungen werden den Arbeitsaufträgen zugeordnet, Leittexte um diese Dimension ergänzt
Bezug zum LF RU ist wie die übrigen Fächer voll integriert
Vorteile: Schüler erleben RU nicht mehr als „Bruch“, Integration von religiösen Fragestellungen in die Alltagswirklichkeit der Schüler, Ausnutzung des Schülerpotentials zum eigenständigen Arbeiten
Nachteile: Schüler erleben RU nicht mehr als „Bruch“ (ja, dieses Argument taucht sowohl als Vor- wie als Nachteil auf), unklare Zeitstruktur, RU reduziert sich total (?) auf reproduzierbare Inhalte, erfahrungsbezogenes Lernen (z.B. Stilleübungen) bleibt auf der Strecke(?), Flexibilität der Terminierung des RU ist durch den Stundenplan des RL oft sehr begrenzt
Offene Fragen: Verbindlichkeit der Bearbeitung der religiösen Aufgabenstellungen? Integration von konfessionslosen, vom RU abgemeldeten Schüler?
3. Die Umsetzung: Erste konkrete Schritte nach Modell 4
3.1 Die Vorgaben:
a) Die Fallstudie
Alle Schüler der Klasse des dritten Ausbildungsjahres der Vermessungstechnik wurden mit folgender Fallüberlegung konfrontiert:
„Sie haben zusammen mit anderen Vermessungstechnikern/-technikerinnen beschlossen, ein Vermessungsbüro zu eröffnen. Glücklicherweise haben Sie schon einen ersten Auftrag vom Bundesministerium für Verteidigung in Aussicht. Sie sollen dabei im Kosovo für die Zufahrtsstrasse zu einem Flughafen (der mit Geldern der EU erbaut wird) die Geländeaufnahme inkl. Entwurf und Trassierung erstellen.
Sie beschliessen, die Mitarbeiter des Büros in Arbeitsgruppen aufzuteilen, da vielfältige Aufgaben auf Sie zukommen, zumal Ihr Unternehmen ja noch erst gegründet werden muss.“
b) Der konkrete Lernauftrag
Die einzelnen Kleingruppen (max. 4), welche von den Schülern für die gesamte Blockzeit gebildet wurden, erhielten zu diesem Fall nun sogenannte „Lernaufträge“, z.B. „Auf Grund der Fallstudie „Auftrag im Kosovo“ und dem im Unterricht erteilten fachlichen Überblick sollen folgende Inhalte von Ihrer Gruppe erarbeitet werden:
Ihre Gruppe gibt einen Überblick über die verschiedenen Geländeformen und ihrer Darstellung. Weiterhin informieren Sie über die Möglichkeiten bei der Wahl der Rechtsform Ihres Unternehmens und den sich daraus ergebenden Konsequenzen. Da Ihr Auftraggeber die Bundeswehr ist, bekommt Ihr Auftrag eine politische Dimension. Sie stellen den Auftrag der Bundeswehr dar. Der Konflikt im Kosovo hat auch politische Hintergründe. Erklären Sie den Mitarbeitern Ihres Unternehmens die religiösen Orientierungen der Konfliktparteien.“
3.2 Der Religionsunterricht
Wie zu erkennen ist, spiegelt die Aufgabenstellung die Blickwinkel der am Lernfeldkonzept beteiligten Fächer wieder. Technologie, Fachrechnen, Wirtschaftskunde, Gemeinschaftskunde und Religion sowie Ethik.
Insgesamt wurden aus der „Religions- und Ethikecke“ folgende Fragestellungen eingebracht:
* „Der Konflikt im Kosovo hat auch politische Hintergründe. Erklären Sie den Mitarbeitern Ihres Unternehmens die religiösen Orientierungen der Konfliktparteien.“
* „Da einer Ihrer Mitarbeiter Gewissenskonflikte wegen des Bundeswehrauftrags geltend macht, informieren Sie sich über Entstehung, Funktionsweise und die Bedeutung von Gewissen bei entsprechenden Fachleuten.“
* „Neben der Bundeswehr sind auch kirchliche Hilfsorganisationen im Kosovo vor Ort: Stellen Sie die Arbeitsprinzipien einer solchen Organisation vor.“
* „Neben technischen gibt es auch zahlreiche humanitäre Hilfen: Stellen Sie eine kirchliche Organisation vor, die sich im Kosovo engagiert.“
* „Stellen Sie in diesem Zusammenhang (es ging um die Beschreibung der wirtschaftlichen Zielsetzung des Unternehmens) dar, was unter einer ‚Unternehmensethik‘ verstanden werden kann.“
* „Ebenso beschäftigt sich das junge Unternehmen mit der Erarbeitung von Leitlinien für den alltäglichen Umgang miteinander. Informieren Sie diese Arbeitsgruppe, inwiefern die Prinzipien der Katholischen Soziallehre hierbei hilfreich sein könnten.“
Viele weitere Aufgabenstellungen sind natürlich denkbar. Diese Aufträge werden von den Schülern in den ersten zweieinhalb Blockwochen selbstständig erarbeitet, Fixpunkt ist ein genauer Abgabetermin. Es besteht in der zweiten Blockhälfte die Möglichkeit, einzelne Aspekte zu vertiefen. Anzumerken ist, daß dieser konfessionell-kooperative Religionsunterricht auch mit dem Fach Ethik kooperiert, da vier Schüler des Klassenverbandes nicht am RU teilnehmen.
4. Ausblick:
Stand der Dinge zum Ende der zweiten Blockwoche (gleichzeitig Redaktionsschluß für die MITTEILUNGEN): die Schüler arbeiten eifrig an ihren Lernaufträgen (auch an den RU-fragestellungen). Fast habe ich den Eindruck als Lehrer zu stören, einige nutzen meine Anwesenheit um die unterschiedlichsten Fragen abzuklären. In den Gruppen wird immer wieder auch intensiv über Aspekte des Reliauftrags diskutiert, zum Teil sehr kontrovers. Ich selbst bin sehr gespannt, wie es weitergeht, welche Ergebnisse zustande kommen und welches Schülerfeedback es geben wird. Dies alles erfahren Sie in unseren nächsten MITTEILUNGEN.