Erfahrungen
mit interreligiösem Religionsunterricht - in der Kollegschule des
Berufsschulwesens in NRW |
Dietrich
Horstmann - Erstveröffentlichung - umfangreicher in AIL -
Arbeitsstelle Interkulturelles Lernen- Uni Duisburg
"Für jeden von euch haben Wir Richtlinien und eine
Laufbahn bestimmt. |
1.
Ausgangslage
Die
ausländischen Schülerinnen und Schüler wollen an der berufsbildenden Schule von
sich aus am RU teilnehmen.
Motive : Sich dazugehörig fühlen, Neugierde, z.T.
Missionseifer, Stolz über die "überlegene" Religion
Die Ev. Kirche im Rheinland hat den RU grundsätzlich für alle SS geöffnet.
Wunsch
meinerseits, den Islam etwas näher kennenzulernen. Alltag der Religion -
weniger die "Theorie".
2. Das Experiment
Wir
unterrichten an der Kollegschule oft im Klassenverband -
interreligiös-kooperativ, weil die Schülerinnen das so wollen und weil eine
Ersatzbelegung nicht greift. Ein Ersatzfach gibt es in NRW nicht.
Spezifikum:
Auf Wunsch einer Gruppe habe ich zweimal halbjahrsweise muslimische bzw. aus
dem islamischem Kulturkreis stammende Schülerinnen und
Schüler alleine für sich unterrichtet - also ohne Schülerinnen und Schüler aus
dem christlichen Kulturkreis.
Begründungen:
Die Muslime kommen oft mit ihren speziellen religiösen Anliegen zu kurz. (
Analogie : Mädchen in Klassen mit Jungen ). Die "christlichen"
SchülerInnen blocken religiöse Themen oft ab. Solange es keinen islamischen RU
gibt haben die islamischen SchülerInnen m.E. ein Recht auf eigenen Untericht.
Erfahrungen
bisher mit 2 Lerngruppen im Ausbildungsgang "Elektrotechnische
Assistenten" ( ETA ) bestärkten mich, diesen Weg zu gehen, auch wenn
Bedenken gegen eine dauerhafte Lösung bestehen. Der Eindruck von Bevorzugung
könnte entstehen. Da katholischerseits die Konfessionalität enger gesehen wird,
kommen wir als Evangelische in eine nicht immer angenehme Lage.
3.
Legitimation durch die Richtlinien
Die
Richtlinien in NRW ermöglichen handlungsorientiert zu arbeiten. Die
Qualifikationen erweisen sich bis auf wenige für einen interreligiösen RU
geeignet.
4. Spezielle Qualifikationen für den interreligiösen RU
1. Keine
Missionierung, sondern Anhören des Anderen, auch wenn er Atheist ist
2. Wege finden, wie wir uns trotz gegensätzlicher, sich z.T. ausschließender
Glaubensüberzeugungen
- einander überhaupt zuhören und Interesse an den anderen entwickeln
- den Dialog nicht aufgeben,
- den Willen zum Zusammenleben stärken
- und im Ernstfall für das Lebensrecht des anderen einzutreten.
Diese an
sich selbstverständlichen Toleranzqualifikationen erweisen sich im Unterricht
oft als die zentralen Ziele, weil die emotionale Besetztheit der Themen vor
allem bei den Muslimen sehr hoch ist. Sie treffen genau in die Lebenslage
zwischen den Kulturen und Religionen und sind oft mit heftigen und
schmerzhaften Konflikten verbunden.
Insgesamt
geht es darum in Lebenssituationen handlungskompetent zu werden. Zur
Lebenssituation gehört aber die religiöse Situation besonders für die Muslime
hinzu, gibt sie doch in der Unsicherheit vielen das Sicherheitsnetz zum
Überleben.
5.
Konkretes Aushandeln von Unterrichtsvorhaben
In diesem
handlungsorientierten RU geht es darum, gemeinsam mit der Lerngruppe, die
Unterrichtsvorhaben auszuhandeln. Dies geschieht je nach Situation ausgehend
von einem Thema, einer Situation oder einer Qualifikation aus dem
Qualifikationskatalog. Dabei sind aber alle drei Dimensionen immer miteinander
in der Lerngruppe in einem offenen Diskurs miteinander zu vermitteln. Denn:
Inhalte, Ziele und Lebensbezug gehören immer zusammen.
Die
Unterrichtsvorhaben können je nach Lerngruppe größer oder kleiner sein und sehr
unterschiedliche Form haben.
6.
Beispiele für Unterrichtsvorhaben
1. Quiz
zum Islam
2. Elemente für einen "Islamkoffer"
3. Besuch einer Moschee mit den ReligionslehrerInnen
4. Problemorientierte Themen
Beispiele
aus einer Lerngruppe - hier A41VF ( Elektrotechnische Assistenten in der
Kollegschule ) - in Auswahl Schulhalbjahr 1996/97
- Texte zum Islamkoffer
- Erbakans Politik und die geopolitische Lage der Türkei ( Reisen Erbakans )
- Zukunft im Beruf
- als Türke hier - als
"Deutsch-Türke" in der Türkei
- Studieren oder Ausbildung im Betrieb ?
- Verdienste - lohnt sich ein Studium ?
- Isaaks Opferung in Bibel und Koran - ein Vergleich
- Das Leben des Propheten ( Kritik an einem Text )
- Darstellung des Islam in einer Vorlesung ( Internet ) - Kritik an einem
Skript
- Minaret mit Muezim in Duisburg ?
- Muslimische Jugendliche in Frankfurt ( FR 5.11.1996 )
7.
Problemlagen
Aus dem
Unterricht mit Mulimen ergeben sich Dilemmata, die nicht schnell auflösbar
sind, sondern oft nur auszuhalten sind.
1. Ambivalenz gegenüber dem "fundamentalistischen"
Islamismus :
Sicherheit oder Freizügigkeit
2. Radikalisierung durch die Lage als Ausländer oder der Wunsch sich zu
integrieren
3. Korantreue - wörtliches Verstehen oder interpretierende Auslegung ?
4. Moralismus, "Werkgerechtigkeit" oder situationsabhängiges Handeln
nach Werten
5. Antisemitismus oder Anerkennung als "Schriftbesitzer"
6. Antimodernismus oder Modernismus d.h. geschlossenes System vs offenes System
- arabische Identität oder Verwestlichung
- (türkisches) Nationalgefühl oder Amerikanismus
- Kollektive Identität oder Individualismus
- absolute Wahrheit oder Pluralismus
- zeitlose Wahrheit oder Historismus
- Wahrheitsanspruch oder Toleranz
- Scharia oder Menschenrechte
7. Traumata: Kreuzzüge, Osmanisches Reich, Großmachtträume, Nahostpolitik
8. Heiße Eisen : Kurden - Türken, Atatürk
8. Weitere Themen - problemorientiert - aus dem RU
zusammen mit Nichtmuslimen
Mit - vorhandenem - Hass umgehen: Wie mache
ich das?
Gewalt in der Jugendszene - Rassismus oder normales Verhalten von allen
Jugendlichen?
Lassen sich Islam und moderne Technik vereinen? Stolz vs. Antimodernismus
Ist die Türkei eine Demokratie?
Die Kurdenfrage - oder: berechtigt der Koran zur Rache?
Ist die Türkei überhaupt eine Nation? Wenn ja, seit wann ?
Woran ging das Osmanische Reich zugrunde?
Umgang mit Minderheiten - nationale, religiöse: Was sagt der Koran dazu ?
Kann ein Moslem in Deutschland beerdigt werden?
Jungfäulichkeit - türkische oder islamische Moral ?
Kann man im Koran Zeitbedingtes vom Ewiggültigen trennen?
Zinsen, Abgaben, Kirchensteuer - Umgang mit Geld in den Religionen
Wer kommt noch ins Paradies, wo wir doch alle täglich die Vorschriften nicht
einhalten?
Sich zu Fragen der Religion äußern - was ist erlaubt: - Kritik - Distanzierung
- Ironie - Lachen - Satire?
Insgesamt gesehen ist die Haltung zur Aufklärung zumeist der Auslöser für
solche Ambivalenzen und Konflikte. Das macht es oft schwierig, die für unsere
Öffentlichkeit selbstverständlichen Formen von Kritik, Ironie oder gar Satire (
Harald Schmidt-Show z.B. ) einzubeziehen.
Anhang
Positionen ( nach H. Dreier, Amos 3/98 )
http://www.amos-blaetter.de
1. Sozialethische Zusammenarbeit : Vorurteile, soziale Gerechtigkeit
2. Abrahmitische Ökumene : Segen Abrahams und seiner Nachkommen gilt allen drei Religionen
3. Wahrheitsfrage:
- exklusiv
- inklusive
- pluralistisch
Dietrich Horstmann