Erfahrungen mit interreligiösem Religionsunterricht - in der Kollegschule des Berufsschulwesens in NRW

Dietrich Horstmann - Erstveröffentlichung - umfangreicher in AIL - Arbeitsstelle Interkulturelles Lernen- Uni Duisburg

"Für jeden von euch haben Wir Richtlinien und eine Laufbahn bestimmt.
Und wenn Allah gewollt hätte, hätte Er euch zu einer einzigen Gemeinde gemacht.
Er wollte euch aber in alledem, was Er euch gegeben hat, auf die Probe stellen.
Darum sollt ihr um die guten Dinge wetteifern.
Zu Allah werdet ihr allesamt zurückkehren;
und dann wird Er euch das kundtun, worüber ihr uneins waret." KORAN [5:48]







1. Ausgangslage

Die ausländischen Schülerinnen und Schüler wollen an der berufsbildenden Schule von sich aus am RU teilnehmen.
Motive : Sich dazugehörig fühlen, Neugierde, z.T. Missionseifer, Stolz über die "überlegene" Religion
Die Ev. Kirche im Rheinland hat den RU grundsätzlich für alle SS geöffnet.

Wunsch meinerseits, den Islam etwas näher kennenzulernen. Alltag der Religion - weniger die "Theorie".

2. Das Experiment

Wir unterrichten an der Kollegschule oft im Klassenverband - interreligiös-kooperativ, weil die Schülerinnen das so wollen und weil eine Ersatzbelegung nicht greift. Ein Ersatzfach gibt es in NRW nicht.

Spezifikum: Auf Wunsch einer Gruppe habe ich zweimal halbjahrsweise muslimische bzw. aus dem islamischem Kulturkreis stammende Schülerinnen und Schüler alleine für sich unterrichtet - also ohne Schülerinnen und Schüler aus dem christlichen Kulturkreis.

Begründungen: Die Muslime kommen oft mit ihren speziellen religiösen Anliegen zu kurz. ( Analogie : Mädchen in Klassen mit Jungen ). Die "christlichen" SchülerInnen blocken religiöse Themen oft ab. Solange es keinen islamischen RU gibt haben die islamischen SchülerInnen m.E. ein Recht auf eigenen Untericht.

Erfahrungen bisher mit 2 Lerngruppen im Ausbildungsgang "Elektrotechnische Assistenten" ( ETA ) bestärkten mich, diesen Weg zu gehen, auch wenn Bedenken gegen eine dauerhafte Lösung bestehen. Der Eindruck von Bevorzugung könnte entstehen. Da katholischerseits die Konfessionalität enger gesehen wird, kommen wir als Evangelische in eine nicht immer angenehme Lage.

3. Legitimation durch die Richtlinien

Die Richtlinien in NRW ermöglichen handlungsorientiert zu arbeiten. Die Qualifikationen erweisen sich bis auf wenige für einen interreligiösen RU geeignet.


4. Spezielle Qualifikationen für den interreligiösen RU

1. Keine Missionierung, sondern Anhören des Anderen, auch wenn er Atheist ist
2. Wege finden, wie wir uns trotz gegensätzlicher, sich z.T. ausschließender Glaubensüberzeugungen

- einander überhaupt zuhören und Interesse an den anderen entwickeln
- den Dialog nicht aufgeben,
- den Willen zum Zusammenleben stärken
- und im Ernstfall für das Lebensrecht des anderen einzutreten.

Diese an sich selbstverständlichen Toleranzqualifikationen erweisen sich im Unterricht oft als die zentralen Ziele, weil die emotionale Besetztheit der Themen vor allem bei den Muslimen sehr hoch ist. Sie treffen genau in die Lebenslage zwischen den Kulturen und Religionen und sind oft mit heftigen und schmerzhaften Konflikten verbunden.

Insgesamt geht es darum in Lebenssituationen handlungskompetent zu werden. Zur Lebenssituation gehört aber die religiöse Situation besonders für die Muslime hinzu, gibt sie doch in der Unsicherheit vielen das Sicherheitsnetz zum Überleben.

5. Konkretes Aushandeln von Unterrichtsvorhaben

In diesem handlungsorientierten RU geht es darum, gemeinsam mit der Lerngruppe, die Unterrichtsvorhaben auszuhandeln. Dies geschieht je nach Situation ausgehend von einem Thema, einer Situation oder einer Qualifikation aus dem Qualifikationskatalog. Dabei sind aber alle drei Dimensionen immer miteinander in der Lerngruppe in einem offenen Diskurs miteinander zu vermitteln. Denn: Inhalte, Ziele und Lebensbezug gehören immer zusammen.

Die Unterrichtsvorhaben können je nach Lerngruppe größer oder kleiner sein und sehr unterschiedliche Form haben.

6. Beispiele für Unterrichtsvorhaben

1. Quiz zum Islam
2. Elemente für einen "Islamkoffer"
3. Besuch einer Moschee mit den ReligionslehrerInnen
4. Problemorientierte Themen

Beispiele


aus einer Lerngruppe - hier A41VF ( Elektrotechnische Assistenten in der Kollegschule ) - in Auswahl Schulhalbjahr 1996/97

- Texte zum Islamkoffer
- Erbakans Politik und die geopolitische Lage der Türkei ( Reisen Erbakans )
- Zukunft im Beruf
- als Türke hier - als "Deutsch-Türke" in der Türkei
- Studieren oder Ausbildung im Betrieb ?
- Verdienste - lohnt sich ein Studium ?
- Isaaks Opferung in Bibel und Koran - ein Vergleich
- Das Leben des Propheten ( Kritik an einem Text )
- Darstellung des Islam in einer Vorlesung ( Internet ) - Kritik an einem Skript
- Minaret mit Muezim in Duisburg ?
- Muslimische Jugendliche in Frankfurt ( FR 5.11.1996 )

7. Problemlagen

Aus dem Unterricht mit Mulimen ergeben sich Dilemmata, die nicht schnell auflösbar sind, sondern oft nur auszuhalten sind.

1. Ambivalenz gegenüber dem "fundamentalistischen" Islamismus :
Sicherheit oder Freizügigkeit
2. Radikalisierung durch die Lage als Ausländer oder der Wunsch sich zu integrieren
3. Korantreue - wörtliches Verstehen oder interpretierende Auslegung ?
4. Moralismus, "Werkgerechtigkeit" oder situationsabhängiges Handeln nach Werten
5. Antisemitismus oder Anerkennung als "Schriftbesitzer"
6. Antimodernismus oder Modernismus d.h. geschlossenes System vs offenes System
- arabische Identität oder Verwestlichung
- (türkisches) Nationalgefühl oder Amerikanismus
- Kollektive Identität oder Individualismus
- absolute Wahrheit oder Pluralismus
- zeitlose Wahrheit oder Historismus
- Wahrheitsanspruch oder Toleranz
- Scharia oder Menschenrechte
7. Traumata: Kreuzzüge, Osmanisches Reich, Großmachtträume, Nahostpolitik
8. Heiße Eisen : Kurden - Türken, Atatürk



8. Weitere Themen - problemorientiert - aus dem RU zusammen mit Nichtmuslimen

Mit - vorhandenem - Hass umgehen: Wie mache ich das?
Gewalt in der Jugendszene - Rassismus oder normales Verhalten von allen Jugendlichen?
Lassen sich Islam und moderne Technik vereinen? Stolz vs. Antimodernismus
Ist die Türkei eine Demokratie?
Die Kurdenfrage - oder: berechtigt der Koran zur Rache?
Ist die Türkei überhaupt eine Nation? Wenn ja, seit wann ?
Woran ging das Osmanische Reich zugrunde?
Umgang mit Minderheiten - nationale, religiöse: Was sagt der Koran dazu ?
Kann ein Moslem in Deutschland beerdigt werden?
Jungfäulichkeit - türkische oder islamische Moral ?
Kann man im Koran Zeitbedingtes vom Ewiggültigen trennen?
Zinsen, Abgaben, Kirchensteuer - Umgang mit Geld in den Religionen
Wer kommt noch ins Paradies, wo wir doch alle täglich die Vorschriften nicht einhalten?
Sich zu Fragen der Religion äußern - was ist erlaubt: - Kritik - Distanzierung - Ironie - Lachen - Satire?

Insgesamt gesehen ist die Haltung zur Aufklärung zumeist der Auslöser für solche Ambivalenzen und Konflikte. Das macht es oft schwierig, die für unsere Öffentlichkeit selbstverständlichen Formen von Kritik, Ironie oder gar Satire ( Harald Schmidt-Show z.B. ) einzubeziehen.

 

Anhang

Positionen ( nach H. Dreier, Amos 3/98 )

http://www.amos-blaetter.de

1. Sozialethische Zusammenarbeit : Vorurteile, soziale Gerechtigkeit
2. Abrahmitische Ökumene : Segen Abrahams und seiner Nachkommen gilt allen drei Religionen
3. Wahrheitsfrage:
- exklusiv
- inklusive
- pluralistisch


Dietrich Horstmann